Samstagsöffnung des Landtags zu Ehren von Ludwig Marum

Sehr geehrte Damen und Herren,

besonders begrüßen möchte ich  Herrn Alexander Marum – wir freuen uns sehr, lieber Herr Marum,  dass Sie als Nachfahre von Ludwig Marum heute zu uns in den Landtag gekommen sind. Am 28. Mai 1928 zogen zwei junge Abgeordnete in das Parlament der damals knapp 10 Jahre alten Weimarer Republik ein. Der eine kam, um sie zu verteidigen. Der andere kam, um sie zu zerstören.

Der eine, das war Ludwig Marum. Ein engagierter Politiker aus Baden, den Sie gleich im Podiumsgespräch näher kennenlernen werden.

Der andere, das war Joseph Goebbels, der das Parlament in einem Zeitungs-Pamphlet bereits als „reif für den Untergang“ sah.

5 Jahre später – 1933 – endete der Kampf um die deutsche Demokratie in der Selbstaufgabe des Parlaments mit dem Ermächtigungsgesetz.

Das Plenarprotokoll jener folgenschweren Abstimmung vermerkt bei „Dr. Marum“ nur noch einen Strich. Er war bereits zwei Wochen zuvor trotz seiner Immunität festgenommen worden. Vergeblich wehrte er sich mit den Mitteln des Rechts gegen einen Unrechtsstaat. Sein bitteres Leid und  sein gnadenloser Tod im Jahr 1934 wirken rückblickend wie das düstere Vorzeichen dessen, was der nationalsozialistische Terror in Deutschland und der Welt noch alles anrichten sollte. Die Erinnerung an diese Zeit, meine Damen und Herren, steht im Mittelpunkt unserer heutigen Samstagsöffnung, die wir hier im Landtag regelmäßig anbieten.

Die Besucher lernen heute aber nicht nur das aktuelle Parlament und seine Arbeit kennen, sondern sie  erfahren zusätzlich einiges über die NS-Zeit und die damals verfolgten Abgeordneten. Das neue Gedenkbuch des Landtags, das an die verfolgten Abgeordneten erinnert, steht deshalb heute auch im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Dieses Gedenkbuch ist in enger Zusammenarbeit des Landtags und des Landesarchivs Baden-Württemberg entstanden. Deswegen danke ich dem Präsidenten des Landesarchivs, Herrn Prof. Dr. Maier, für das gute Zusammenwirken und das Grußwort, das wir gleich von Ihnen hören werden.

Und das Landesarchiv hat darüber hinaus eine besondere Ausstellung umgesetzt, die Sie heute hier im Anna-Blos-Saal des Bürger- und Medienzentrums finden. Sie ist einem Vorreiter unserer Demokratie gewidmet: Ludwig Marum. Auch dafür danke ich dem Landesarchiv und hier besonders Herrn Dr. Rehm und Frau Stegmann, die die Ausstellung realisiert haben, gemeinsam mit  der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem Forum Ludwig Marum.

Wenn wir heute die Türen unseres Landtags öffnen, wenn wir heute an Ludwig Marum und seine Mitstreiter  erinnern – dann können wir zwei Botschaften mitnehmen:

Die erste Botschaft ist eine dunkle:

Dieses Haus und die Demokratie:

Das ist nicht einfach gesetzt.

Das ist nicht für immer gegeben.

Das alles kann durch schwere Krisen,

durch einen verrohten Diskurs,

durch Extremisierung und Polarisierung ins Wanken geraten – aber auch, meine Damen und Herren, durch Vernachlässigung und Missachtung. Die Demokratie wird uns nämlich nicht in die Wiege gelegt. Sondern: Jede Generation muss sie sich neu erarbeiten, muss sich neu zu ihr bekennen. Die jüngere Generation hat aber bald keinen persönlichen Bezug mehr zur Diktatur des Nationalsozialismus und zum 2. Weltkrieg.

Schon mein Vater – 1933 geboren – wurde nicht mehr in den Krieg eingezogen. Aber er erzählte uns, wie es war, als er sechs Jahre alt war und mein Großvater in den Krieg ziehen musste. Und mein Großvater erzählte uns von Todesangst und Gefangenschaft. Ich habe also selber noch Geschichten aus dieser Zeit  in der eigenen Familie gehört.  Und viele meiner Generation wissen auch von Verstrickungen der eigenen Familie in das NS-Regime. Aber dann und vor allem: Meine Generation wurde geprägt von der Begeisterung für die Demokratie, die unsere Eltern als Jugendliche nach 1945 kennen- und lieben lernten.

Der erste Bericht unseres Antisemitismusbeauftragten Michael Blume zeigt jedoch – und es gibt viele andere Studien dazu – dass antisemitisches und rassistisches Denken nicht verschwunden sind, auch nicht bei uns in Baden-Württemberg.  Und das ist leider nicht nur eine Generationenfrage! Die Zeitzeugen, die auf die Menschen und unsere heutige Gesellschaft läuternd einwirken könnten, werden immer rarer. Deswegen müssen wir uns unserer Geschichte immer wieder stellen, keinesfalls verharmlosend oder  relativierend, sondern verantwortungsbewusst und zukunftweisend.

Und die Botschaft unseres heutigen Tages hat  auch eine optimistische Komponente:

Nämlich: Wir haben es selbst in der Hand.

Menschen wie Ludwig Marum machen uns vor, wie man mit Herzblut für Demokratie einstehen kann – über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg. Die Verpflichtung zu den Werten des Grundgesetzes ist etwas, was uns bei aller Polarisierung einen kann: Egal woher wir kommen, egal welche politische Meinung wir haben.

In Verantwortung vor Gott und den Menschen haben sich die Deutschen vor 70 Jahren ihre neue Verfassung gegeben und denselben Geist atmet auch die Verfassung von Baden-Württemberg. Vor 80 Jahren waren die Demokraten in der Weimarer Republik  in der Unterzahl. Heute sind sie es nicht und wir können dafür sorgen, dass das so bleibt. Denn das Vergessen muss kein Automatismus sein. Die NS-Gräuel mögen immer weiter hinter uns liegen, aber wir können dafür sorgen, dass die Erinnerung daran nicht verblasst.

Dafür braucht es in meinen Augen zwei Dinge:

Erstens: Wir brauchen Räume des Erinnerns. Deswegen haben wir über 70 solcher Räume hier im ganzen Land geschaffen. Dezentral in vielen Teilen von Baden-Württemberg haben wir Erinnerungsstätten geschaffen – allein in meinem Wahlkreis gibt es zwei solcher KZ-Gedenkstätten – in Leonberg und in Gäufelden. An vielen Stellen in Baden-Württemberg wurden Synagogen wieder aufgebaut, Mahnmale und Museen errichtet. Die meisten werden von der Landeszentrale für politische Bildung betreut und begleitet, wofür wir überaus dankbar sind.

Im Landtag gab es – zumindest bislang – immer einen fraktionsübergreifenden Konsens für die Förderung – auch die finanzielle Förderung –  dieser wichtigen Arbeit. Und ich hoffe sehr,  dass das so bleibt! Und das Gedenken geschieht auch länderübergreifend: Vor zwei Wochen hat unsere Kultusministerin Frau Dr. Eisenmann mit ihren Kollegen aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland eine neue Vereinbarung unterzeichnet. Damit verpflichtet man sich zur Pflege von 2.000 Gräbern von deportierten Juden in Südfrankreich.

Es braucht daneben aber noch etwas Zweites, damit die Erinnerung nicht verblasst: Es braucht Menschen, die diese Gedenkstätten mit Leben füllen. Vor drei Jahren brachte der Holocaust-Überlebende Naftali Fürst dies auf den Punkt: „Wir sind die letzten Zeugen, die die Schoah überlebt haben. Und ihr, nehmt auf euch die schwere Aufgabe, unsere Geschichte weiterzuerzählen.“ Das ist auch mein Appell an uns alle, meine Damen und Herren: In einer Zeit, in der wir nach und nach die letzten Augenzeugen verlieren:

Erzählen wir die Geschichte weiter! Sorgen wir dafür, dass unsere Kinder und Enkelkinder den Holocaust nicht vergessen. Sorgen wir dafür, dass man Menschen wie Ludwig Marum kennt. Schweigen wir nicht, wenn andere Leute in unserem Umfeld die NS-Zeit relativieren. Stehen wir auf, wenn sich in der Gesellschaft wieder antisemitistische Stereotype ausbreiten.

Möge uns allen Ludwig Marum als Beispiel gelten.

Zu Beginn meiner Rede sagte ich, dass er an der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz nicht mehr teilnehmen durfte. Aber es ist klar, wie seine Antwort ausgefallen wäre, lieber Herr Alexander Marum:

Nein zum Nationalsozialismus.

Nein zu Rassenideologie und zum Antisemitismus

Nein zur Selbstaufgabe des Parlaments.

Aber ja zur Republik.

Ja zur parlamentarischen Demokratie.

Ja zu Pluralismus und Meinungsfreiheit.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!