Grußwort zur 16. Württembergischen Evangelischen Landessynode

Sehr geehrten Damen und Herren,

vor zwei Jahren etwa habe ich mit der Familie einen Urlaub in der Provence verbracht, in einem Dorf in der Nähe von Avignon. Bei einer kleinen Wanderung stießen wir auf die Überreste der sog. Pestmauer. Sie wurde 1720 errichtet, nachdem die Pest mit einem Schiff aus Syrien in den Hafen von Marseille eingeschleppt worden war. Steine gegen die Pest – das kam mir damals seltsam vor. Kann man eine Krankheit durch eine Mauer aufhalten? Na ja, das war vor 300 Jahren. So dachte ich in diesem Urlaub.

Heute frage ich mich: Sind wir eigentlich weiter  gekommen? Was versucht denn ein Steinwall Anderes als das, was uns heute zur Gewohnheit werden soll: Abstand halten. Ändern sich manche Dinge im Lauf der Geschichte gar nicht? Wie ist es Ihnen ergangen, meine Damen und Herren, in den vergangenen Monaten mit all den Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie?

Bei uns zu Hause haben wir für einige Wochen wieder einen gemeinsamen Haushalt mit unseren erwachsenen Kindern gebildet: Dieser Lockdown schien ihnen unter dem Dach der Familie leichter erträglich zu sein als alleine in einem Studentenzimmerchen.  Ich glaube, so war es in vielen Familien: Die Generationen sind wieder zusammengerückt. Insgesamt habe ich viel Engagement, viel Nachbarschaftshilfe  und Nächstenliebe wahrgenommen. Auch das sind Reaktionen, die es in der Geschichte immer wieder gibt.

Wir mussten und müssen weiterhin auf Vieles verzichten in dieser Coronazeit:

  • Kranke und Alte auf Seelsorge
  • Kinder auf Schule und Kita
  • Geschäfte auf ihre Kunden
  • Gastronomen auf ihre Gäste
  • Künstler auf ihr Publikum – um nur einige Aspekte zu nennen.

Wir haben auf Vieles verzichtet in dem Bewusstsein, dass wir einen Beitrag dazu leisten, Leben zu schützen. Der Schutz des Lebens rückte in der Werteskala ganz absolut nach oben – das hat zu interessanten Diskussionen geführt. Leben, Würde, Grundrechte –  kann, darf man da priorisieren?

Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten diese Debatten weiter führen. Uns weiterhin Zeit nehmen und nachdenklich bleiben, so, wie Sie es bei Ihren Tagungen ja immer halten. Jetzt, wo wieder etwas mehr Normalität einkehrt, merken wir vielleicht, was uns besonders gefehlt hat. Das wissen Sie als Kirchenvertreterinnen und Kirchenvertreter genauso wie ich als Politikerin.

Ich denke da zum Einen an die Gottesdienste: Ich fand es sehr schön, dass viele Menschen plötzlich festgestellt haben, dass der Gottesdienst fehlt.  „Ostern auf dem Sofa“ zu feiern, wie wir das bei uns in Leonberg genannt haben, die Turmbläser und das Glockengeläut zu hören: Das waren passable  Notlösungen. Und wir wissen ja, dass Begegnung mit Gott natürlich auch außerhalb gotischer Sakralbauten möglich ist. Aber: Das Miteinander hat gefehlt. Das gemeinsame Beten hat gefehlt. Und ganz besonders: Das gemeinsame Singen hat gefehlt  –  nicht nur den musikalischen Menschen   Aber wie ich höre, soll es hier ja demnächst eine Änderung geben.

Im Landtag dürfen wir zwar weiterhin nicht unseren „Raum der Stille“ nutzen – unseren wunderschönen Andachtsraum.  Die Andachten der beiden Kirchenvertreter finden weiterhin in einem gesichtslosen Sitzungssaal statt, wo wir den gebührenden Abstand halten können.  Aber immerhin: Die Andachten können wieder stattfinden.

Das Zweite, was wir vermisst haben, war das demokratische Miteinander. Selbst wir als Landtag mussten Sitzungen ausfallen lassen. Später dann haben wir einmal sehr vehement gegenüber dem Ministerpräsidenten auf unsere Ansprüche als Parlament gepocht.  Da haben wir sogar von unserem Recht Gebrauch gemacht und den Ministerpräsidenten in den Landtag hinein zitiert, damit er uns und nicht zuerst der Presse über seine Gespräche mit der Kanzlerin berichtet.

Derzeit diskutieren wir lebhaft darüber, wie wir es bewerkstelligen können, dass das demokratisch gewählte Parlament auch in Pandemiezeiten mitsprechen kann und die Regierung nicht ganz und gar losgelöst von den Volksvertretern per Verordnung durchregieren kann. Dazu wollen wir jetzt ein eigenes Landespandemiegesetz verabschieden.

Ich bin auch sehr froh, dass wir klarstellen konnten, dass die Kirchen sich in ihren Gremien – vom Kirchengemeinderat bis zur Landesynode – versammeln dürfen, wenn Sie das für richtig und angebracht halten. Das darf Ihnen die Regierung nicht verbieten!  Dass gerade die Kirchen mit solch einem Recht verantwortungsbewusst umgehen, halte ich für selbstverständlich und Ihre heutige Tagung beweist das ja einmal mehr. Aber ich finde, gerade jetzt brauchen wir Orte, an denen wir debattieren können. Denn die Fragen, vor denen unsere Gesellschaft steht, sind ja in letzter Zeit nicht weniger, sondern sie sind mehr geworden:

  • Wie können wir in einer Welt mit Abstandsregeln füreinander da sein und das Gebot der Nächstenliebe realisieren? Ohne Pestmauern und ohne mittelalterliche Härte?
  • Wie sollen wir umgehen mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum aufreibenden Thema Sterbehilfe?

Wie kann und soll die Kirche in Zukunft das Evangelium verkünden? Digital vielleicht? Das sind die Fragen, die auf Ihrer Tagesordnung stehen und die Sie mutig angehen. Ich hoffe, einen kleinen Eindruck von Ihrer Arbeit auch für meine Arbeit mitnehmen zu können.  Deswegen danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihre Einladung und wünsche Ihnen ein gutes Gelingen.Ich bin sicher: Wir werden unsere eigenen, wir werden neue Antworten zur Krankheitsbekämpfung  finden und uns nicht einfach auf Abschottung und  Pestmauern verlassen müssen.