Grußwort Eröffnung Literaturjahr Ettlingen

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der Schriftsteller Navid Kermani schrieb Anfang April ein wunderschönes Essay in der NZZ, in dem er sich mit “Zufluchtsorten des Geistigen” auseinandersetzte. Als „Zufluchtsort des Geistigen“  bezeichnet Kermani Orte, an denen man dem Stress und dem Lärm des Alltags entfliehen kann. Wo man zur Ruhe kommt, Friede und Inspiration findet. Im Ausland findet Kermani solch einen “Zufluchtsort des Geistigen” oft in einer Moschee oder in einer Kirche. Zu Hause in Köln geht er dagegen eher in ein Opernhaus.

Wo, meine Damen und Herren, finden Sie solch einen Zufluchtsort des Geistigen? Für mich könnte das eine Bibliothek sein. Oder auch eine Buchhandlung. Als Gäste eines Literaturfestes muss ich Ihnen von den Vorzügen einer Bibliothek gar nicht vorschwärmen. Sie haben wahrscheinlich selber – ganz ohne mein Zutun – die Aura, die einzigartige Atmosphäre dieser Orte vor ihrem inneren Auge. Eine Bücherei ist ganz in Kermanis Sinne ein friedlicher, ein inspirierender Ort. In einer Bibliothek spiegelt sich der Geist der Literatur als stille Kunst: Literatur wird still produziert und in der Regel auch lautlos rezipiert. Als die stillste aller Künste, so müsste man meinen, ist die Literatur eigentlich ideal für die Zeiten einer Pandemie. Eine Opernaufführung, ein Theaterstück– oder auch das “Jakob Bänsch Collective“, das unsere Veran-staltung heute musikalisch so schön umrahmt, wirkt real noch viel eindrucksvoller als über einen Livestream. Die Literatur hingegen ist es schon immer gewöhnt, über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg zu wirken. Die Literatur als Kunst der Stunde: Das scheint auch eine Umfrage des Börsenvereins Deutscher Buchhandel zu bestätigen. Demnach hat die Büchernutzung während der Coronakrise um 13% zugenommen, bei den Jugendlichen sogar um 23%.

Jetzt weiß ich natürlich, dass in der Coronapandemie die Lage für Schriftsteller, insbesondere auch für viele kleine Buchhandlungen nicht rosig ist. Von den kleinen Verlagen ganz zu schweigen. Und es bleibt zu hoffen, dass die genannten Steigerungen im Lesekonsum nicht allein auf amerikanische Bestseller und E-Books zurückzuführen sind. Aber es stimmt ja auch nur zur  Hälfte, wenn ich die Literatur als eine “stille Kunst” bezeichne. In einer Bücherei sollte es natürlich meistens möglichst leise sein, aber nicht leer. Denn Bibliotheken wollen auch Orte der Begegnung, der Information, des Austausches sein. Der Bibliotheksverband beschreibt Büchereien gerade auch  vor dem Hintergrund der neuen Medien und der voranschreitenden Digitalisierung ausdrücklich als sog. „Dritte Orte“, wo man sich in der Freizeit zwischen Wohnort und Arbeitsplatz gerne aufhält, begegnet und inspirieren lässt.

Mir ist es ein ganz großes  persönliches und politisches Anliegen, dass wir in Baden-Württemberg keine  weißen Flecken auf der Landkarte der Bibliotheken haben, dass es überall bei uns einen Zugang zu öffentlichen Büchereien  gibt und jeder dieses vielfältige Kulturangebot niederschwellig nutzen kann. Literatur ist also nicht nur eine stille, sondern auch eine vernehmbare Kunst, manchmal auch eine laute, vielleicht sogar eine schrille. Sie möchte gehört werden und Wirkung entfalten und zwar nicht nur beim einzelnen Leser sondern auch gesellschaftlich. Zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, von Kunst und Politik hat Thea Dorn eine bemerkenswerte Rede gehalten, und zwar letztes Jahr in Mannheim im Rahmen des “Dialogs 2020 – Kulturpolitik für die Zukunft“, zu dem Frau Olschowski eingeladen hat.

Kunst und Gesellschaft, so stellt Thea Dorn heraus, haben ein ambivalentes Verhältnis: Einerseits lebt die Kunst gerade da auf, wo sie nicht gesellschaftlichen Zwängen unterworfen ist. Da, wo die Politik nicht bestimmt, wie Kunst zu sein hat. Zwar darf die Kunst auch in einer Demokratie nicht ausnahmslos alles, schränkt die Moderatorin des Literarischen Quartetts ein. Und sie verweist darauf, dass ausgerechnet in den unfreien Monarchien der Renaissance großartige Kunstwerke geschaffen wurden.

Aber ich denke, meine Damen und Herren, für uns alle ist klar und gerade auch mit Blick auf andere Länder wie aktuell z.B. auf China: Es ist richtig und wichtig, wenn der Kreativität keine Grenzen gesetzt sind. Wenn man künstlerisch eigentlich alles ausdrücken kann, was denkbar ist. Das ist bei uns sogar grundgesetzlich garantiert. Kunst floriert also am besten ohne staatliche, ohne politische Einmischung. Andererseits: Kunst und Gesellschaft können nicht ohne einander gedeihen. Wir haben sogar einen durch die Verfassung festgelegten Auftrag, die Kunst zu fördern – die Kommunen leisten hier übrigens am allermeisten, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister.

Aber auch der Bund und das Land tragen einiges dazu bei. Dass wir in der Landespolitik  Baden-Württemberg als Literaturland stärken wollen, wird ja heute, wie ich finde, sehr deutlich. Wir wollen dafür sorgen, dass die Literatur als eigentlich eher stille Kunst die Öffentlichkeit erhält, die sie braucht. Dass wollen ihr Orte und Räume und auch so etwas wie diese Literaturtage bieten. Damit sie vernehmbar wird. Ich finde, jede Art von Kunst sollte wahrgenommen werden – allerdings bedeutet das nicht automatisch auch einen Anspruch auf positive Resonanz.

Das gilt z.B. für die aktuelle  Aktion #allesdichtmachen, bei der Schauspielerinnen und Schauspieler die Coronapolitik kritisieren – mit professionell gesprochenen Texten, die viel Aufmerksamkeit aber auch großen Anstoß erregt haben. Die Freiheit der Kunst erlaubt genau das: etwas zu machen, was nicht allen gefällt. Denn nur dann gibt es einen ehrlichen, einen echten öffentlichen Diskurs – ohne die berühmte Schere, die schon im eigenen Kopf ansetzt. Die Debatte darüber, was erlaubt ist oder nicht, ist ja eine ganz alte und wurde auch in vordemokratischen Zeiten geführt. Ich erinnere mich dabei gerne an meine Lektüre im Studium, an Goethes Torquato Tasso. Da geht es in er höfischen Gesellschaft darum, ob das Prinzip „Erlaubt ist, was gefällt“ oder das Prinzip „Erlaubt ist, was sich ziemt“ zu gelten hat.

Kunst und Gesellschaft, Kunst und Politik stehen also nicht erst heute in einem ambivalenten Verhältnis. Heute aber  sind wir uns alle darin einig, dass wir uns gegenseitig brauchen. Deswegen bin ich und sind wir alle der Stadt Ettlingen so dankbar, dass sie die Literaturtage nicht einfach hat ausfallen lassen. Sondern dass sie eine solch innovative Lösung gefunden hat und uns kurzerhand ein ganzes virtuelles Literaturjahr beschert. Vielen herzlichen Dank dafür! Ettlingen ist ja auch richtig prädestiniert für solch ein Ereignis! Eine Stadt, in der die Kultur ein festes Zuhause hat, nicht nur im barocken Schloss, wo es im Sommer im Innenhof die herrlichen Schlossfestspiele gibt, wo Literatur zu Theater wird, wo die stille Kunst zur vernehmbaren Kunst wird. Ich hatte schon einmal Gelegenheit, dabei zu sein und erinnere mich gerne an den “Kaufmann von Venedig” von Shakespeare, den ich hier auf Einladung meiner Landtagskollegin Christine Neumann-Martin gesehen habe – übrigens auch ein Stoff, der zu kontroversen Diskussionen einlädt: Ist es ein Stück, dass antisemitistische Klischees reproduziert? Oder eines, das mit ihnen bricht? Solche Diskussionen, solchen Austausch – genau das braucht Kunst.

Meine Damen und Herren, im Anschluss an diese Eröffnungsfeier  hören wir ja nachher eine Lesung von Joachim Zelter, auf die ich mich schon sehr freue. Ich habe extra nochmal sein Buch “Der Ministerpräsident” zur Hand genommen, bevor ich hier her gekommen bin. Das ist ja eine ziemlich spöttische Satire auf den Politikbetrieb. Es geht dabei nicht um irgendeine entfernte Politiksphäre, sondern das spielt hier, bei uns, in Baden-Württemberg, vor unserer wunderschönen landschaftlichen Kulisse. Und auch hier gilt: Politikerinnen und Politikern muss das nicht gefallen – mir hat es aber gefallen, ich finde es sogar großartig und die Imperia will ich unbedingt auch noch lesen.

Ich  will es zum Abschluss noch einmal betonen: Wir brauchen solche Bücher! Denn  solche Bücher zu schreiben, über solche Bücher zu reden, von solchen Büchern den  Spiegel vorgehalten zu bekommen: diese Rolle hat die Kunst in einer Demokratie! Und Literatur ist eben nicht nur still, sondern sie kann und soll manchmal auch schrill sein. Insofern freue ich mich, dass wir im Lockdown nun nicht länger nur darauf angewiesen sind, in unserem stillen Kämmerlein zu lesen. Sondern dass wir uns gemeinsam und öffentlich der Literatur widmen und ihr Gehör verschaffen  können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!