Gedenktag der Holocaustopfer

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Liebe Schülerinnen und Schüler,

diesen Monat saßen zwei Jugendliche im  Amtsgericht – drüben im Schloss beim Pomeranzengarten – auf der Anklagebank. Zwei 19jährige Schüler aus Renningen und Weil der Stadt. Einer mit Abinote 2,1. So habe ich es in der LKZ vom 8. Januar gelesen. Sie hatten in ihrer WhatsApp-Gruppe antisemitische Sticker geteilt. Der eine hatte das Bild von einem Flüchtlingsboot gepostet – daneben ein Hitler-Konterfrei mit dem Kommentar „Die mach ich zu Brennholz“.

Ich denke, dass sich jeder von Euch hier in der Wanne intuitiv bewusst ist, wie solche Posts alle Regeln guten Geschmacks verletzen. „Das geht gar nicht“, würden meine Kinder, die alle drei auch hier am JKG waren, wahrscheinlich sagen. Aber: Was hättet ihr denn getan, wenn Ihr das selber gesehen hättet, wenn jemand von Euren Freunden, eine Mitschülerin oder ein Kumpel aus dem Sportverein, diese Bilder gepostet hätte? Wenn Ihr die Sticker in einer eurer eigenen WhatsApp-Gruppen entdeckt hättet?

Ich glaube, da wird es komplizierter. Traut man sich dann – womöglich als einziger – die Stimme zu erheben? Postet man dann empört einen Protest? Zeigt man das an? Will man sich da outen und vielleicht dastehen als jemand, der „keinen Spaß versteht“? Will man sich da mit den eigenen Freunden anlegen? Den Mut zu zeigen, den man ja immer so abstrakt mit diesem Wort „Zivilcourage“ bezeichnet – das ist gar nicht einfach. Aber ich finde, dass dieser Mut wichtig ist, ja er ist ganz entscheidend, wenn wir verhindern wollen, dass sich der Antisemitismus wieder in Deutschland ausbreiten kann.

Im Zusammenhang mit der Frage zur Zivilcourage möchte ich Euch zwei Gedanken mit auf den Weg geben:

Erstens: Behaltet ein offenes Auge und ein offenes Ohr für die Vergangenheit.

Ich weiß, es ist schwierig: Sich einen Film über den Holocaust anzusehen. Eine Gedenkstätte besuchen. Sich Zeitzeugengeschichten anzuhören. Diese Bilder in sich hineinzulassen – Bilder von kahl geschorenen Köpfen, von verzweifelt weinenden Kindern, von getrennten Familien – das lässt Einen schlucken und da gibt es einen Schmerz, so ganz tief in uns drin, den wir nicht gut beschreiben können, der aber zutiefst menschlich ist und den wir nicht einfach wegwischen dürfen. Und ich finde, es ist völlig in Ordnung, dass man sich nicht alles anschaut, dass man damit nicht dauernd konfrontiert werden will, weil es einem manchmal einfach zu viel wird.

Aber es ist wichtig, dass wir solche Bilder und Geschichten im Kopf haben, dass wir uns erinnern, dass wir in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und Mitgefühl zu empfinden. Diese Bilder im Kopf: die bedeuten ja auch Wissen die beinhalten Informationen, die helfen dabei, dass wir Judenwitze oder Nazisymbole nicht als Lappalie oder als Witz abtun. Deswegen ist es so wichtig, sich Geschichten wie heute von Frau Erben zu öffnen. Deswegen Ihnen, Frau Erben, mein größter Dank für die Arbeit, die Sie hier leisten. Dass Sie ihre Erlebnisse nicht nur aufgeschrieben haben, sondern sie gerade auch an unseren Schulen weitererzählen. Hier in Leonberg, kürzlich in Rutesheim und Esslingen. Aufrichtig, ungebrochen, aber auch behutsam tun Sie das. Und auch Ihnen Frau Granitza und Frau Bühler, einen großen Dank für ihre unermüdliche Arbeit im Dienste der Erinnerung.

Ich selber habe Yad Vashem besucht – das geht echt unter die Haut – und ich kenne viele Erinnerungsorte. Die Landeszentrale für politische Bildung, die ja zu uns im Landtag gehört, betreut über 90 Gedenkstätten in ganz Baden-Württemberg: ehemalige KZs, Synagogen oder Orte des Widerstands. Unsere Gedenkstätte hier im ehemaligen Tunnel gehört auch dazu. Lieber Herr Röhm, schön, dass Sie heute hier sind! Ihr kennt sie bestimmt. Und auch den Erinnerungsweg vom Bahnhof durch die Seestraße, wo Infotafeln aufgestellt sind. Vielleicht habt Ihr auch schon davon gehört, dass hier im KZ Leonberg auch Menschen in eurem Alter eingesperrt waren und zur Zwangsarbeit verpflichtet waren.

Einer von ihnen war Albert Montal. 15 Jahre alt. Ein Mensch wahrscheinlich mit ähnlichen Träumen, ähnliche Plänen wie Ihr heute. Aber sein Unglück war es, zur falschen Zeit mit der angeblich falschen Religion geboren zu sein. Und so wurde er 1944 aus Frankreich hier nach Leonberg verschleppt. Er überlebte die Zwangsarbeit im Tunnel, die Krankheiten nur mit der Hilfe eines Mitgefangenen. Albert Montal ist vor drei Jahren gestorben. Immer mehr Zeitzeugen verlassen uns. Liebe Frau Erbe, Ihre Erzählungen sind so wichtig für uns! Aber ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, könnt dafür sorgen, dass die Geschichte von Albert Montal – überhaupt alle Geschichten, die hier bei uns in Leonberg geschrieben wurden  – nicht vergessen werden. Das meine ich mit offenen Augen und offenen Ohren für unsere – auch lokale – Historie.

Daraus entsteht ein weiterer, zweiter Gedanke: Wir müssen weiterarbeiten. Ich weiß, das klingt für Euch vielleicht seltsam. Wir leben in einer friedlichen Zeit, der Nationalsozialismus scheint uns weit weg zu sein. Dass sich die Geschichte wiederholen könnte, klingt vielen unrealistisch. Aber: vor kurzem wurde uns im Landtag der Bericht des Antisemitismusbeauftragten vorgelegt. Ich habe dort eine Passage gelesen, die mich besonders schockiert hat: 2018 hat man in Baden-Württemberg eine Umfrage gemacht. Eine Frage war: „Können Sie verstehen, dass einigen Leuten Juden unangenehm sind?“ 37% – ich wiederhole das noch einmal – 37% haben mit „Ja“ geantwortet. Also mehr als jeder Dritte. Das zeigt: Antisemitismus, der Hass auf Juden, ist 1945 nicht magisch aus der Welt verschwunden. Er lebt und köchelt unter der Oberfläche weiter. Und ist auch heute noch weit verbreitet. Vielleicht erinnert ihr euch an den Beinahe-Amoklauf in der Synagoge in Halle im letzten Jahr. Oder an die Diskussion, ob Juden in Deutschland noch gefahrlos ihre Kippa-Kopfbedeckung tragen können.

Und deswegen dieser zweite Gedanke: Wir müssen weitermachen! Immer weiterarbeiten, um Antisemitismus und Nationalismus zu verhindern und Zivilcourage aufzubauen. Liebe Schüler, ich will Euch keine Angst machen, kein schlechtes Gewissen einjagen. Ihr tragt keine Schuld am Nationalsozialismus. Keine Verantwortung dafür, was vor einer, zwei oder drei, in Eurer Groß- oder Urgroßelterngeneration passiert ist. Aber ihr könnt beeinflussen, wie die Zukunft aussehen wird. Ihr könnt dafür sorgen, dass „du Jude“ keine Beleidigung unter Jugendlichen wird. Dass man sich keine „Judenwitze“ erzählt. Und auch, wenn ihr nicht verhindern könnt, dass andere Menschen Nazi-Sticker auf WhatsApp posten: Ihr könnt dafür sorgen, dass solche Zeitungsartikel in Zukunft anders aussehen. Dass dort nicht nur steht, dass zwei Jugendliche solche Sticker geteilt haben. Sondern auch, dass dafür doppelt- und dreifach so viele Jugendliche die Courage besaßen, diese Nachrichten zu verurteilen und zur Anzeige zu bringen.

Liebe Schülerinnen und Schüler, ich finde, das lohnt sich! Wir leben in solch einem schönen Land, wir haben weiterhin einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt.  Wir wollen, dass das so bleibt! Letztes Jahr haben wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert. Wir sind stolz auf unser Grundgesetz. Im Art. 3 des GG steht: „…. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Dafür wollen wir uns einsetzen. Wenn es sein muss, auch mit Mut und Zivilcourage.