Empfang des CV-Zirkel Stuttgart

Sehr geehrte Damen und Herren,

100 – 70 – 30 das ist kein Code für einen Tresor, das ist keine Kombination für ein Zahlenschloss. Nein, meine Damen und Herren, das ist der Schlüssel zu prägenden Wegmarken unserer deutschen Geschichte. Und, lieber Herr Herr Stangl, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ziffer 9 am Ende der Jahreszahlen eine besondere Bedeutung hat: 1989 – 1949 – 1919. Das heißt: 100 Jahre Weimarer Republik, 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland und damit 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall. Das sind die Jubiläen, denen wir in den vergangenen Monaten unsere besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben und dies wollen wir auch heute, vier Tage vor dem 9. November, besonders tun. Jedes dieser Jubiläen steht für Zäsuren und Veränderungen in der deutschen Geschichte. Der deutschen Geschichte,  mit der wir uns –  und ich denke, da darf ich hier für uns alle sprechen –  identifizieren, die uns prägt.

Beginnen wir in der Mitte dieser besonderen Zahlenreihe: Vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet, das Grundgesetz trat in Kraft. Meine Damen und Herren, ich durfte kürzlich auf Einladung der bayrischen Landtagspräsidentin Ilse Aigner Herrenchiemsee besuchen, den Symbolort des Föderalismus. Sie erinnern sich vielleicht: Auf dieser traumhaft schönen Insel, im ehemaligen Speisesaal des Schlosses, das sich König Ludwig II nach Versailler Vorbild hatte bauen lassen, tagte 1948 zwei Wochen lang der Verfassungskonvent und erarbeitete einen Verfassungsentwurf, den er dem Parlamentarischen Rat übergab. Versammelt waren die Ministerpräsidenten der 11 Länder der westlichen Zonen und sie setzten auf den Föderalismus als dominierendes Gestaltungsprinzip für das neue Staatsgebilde Deutschland. Während der gesamten verfassungsgebenden Entwicklung ging es immer auch um den Spannungsprozess zwischen den Länderinteressen und den Parteien, die bereits über die Besatzungszonen hinaus aufgebaut worden waren. Das Grundgesetz, das dann 1949 in Kraft trat, hat beides, die Parteien und den Föderalismus, angemessen berücksichtigt. Die Kritik sowohl an den Parteien als auch am Föderalismus gehören heute zum alltäglichen Gespräch. Aber ich sage es gleich zu Beginn:  Ich lasse an beidem nicht rütteln. Den Parteien wird in Art. 21 eine maßgebliche Rolle für die politische Willensbildung zugesprochen. Der Föderalismus gehört zu unserer Geschichte und zu unserer Kultur.

Das Grundgesetz war ja zunächst nur als Provisorium gedacht, aber es entwickelte sich  zu einer echten Erfolgsgeschichte. Das liegt ganz besonders auch an den Grundrechten, die ihm vorangestellt sind. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes zogen damals die Lehren aus zwei katastrophalen Kriegen und einer gescheiterten Demokratie und verfolgten das klare Ziel, mit Hilfe eines konstitutionellen Rahmens sicherzustellen, dass sich Derartiges niemals wiederholt. Die Deutschen entwickelten dann so etwas wie einen Verfassungspatriotismus. Vaterlandsliebe war nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ja nicht mehr möglich. Bundespräsident Gustav Heinemann (1899 – 1976) wird gerne zitiert, um diese Haltung in den frühen Jahren der Bundesrepublik zu erklären. Auf die Frage, ob er diesen Staat nicht liebe, antwortete er „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!”

Auch heute noch haben wir Deutschen ein zwiespältiges Verhältnis zum Patriotismus, aber das Grundgesetz halten wir alle hoch: Es verkörpert den  Konsens über die Werte unserer Gesellschaft. Das Grundgesetz ist die freiheitlichste Verfassung, die die deutsche Geschichte je hatte und es gehört mittlerweile zu den anerkanntesten demokratischen Verfassungen weltweit. Viele junge Demokratien haben sich am deutschen Grundgesetz orientiert, wohl in der Hoffnung, eine ähnlich stabile Demokratie zu erlangen.

Mittlerweile hat das Grundgesetz allerdings mehr als sechzig Verfassungsergänzungen erfahren. Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert erklärte in seiner Rede zum 70jährigen Geburtstag des Grundgesetzes,  es sei heute ziemlich genau doppelt so lang wie damals und er sagte –  ich zitiere: „ob es auch doppelt so gut ist, habe ich bis heute noch nicht gehört“. Tatsache ist aber, dass uns das Grundgesetz eine  in der deutschen Geschichte bisher nie dagewesene politische Stabilität ermöglicht hat und dies auch als Basis für wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand.

Heute jedoch fragen wir immer öfter, ob dies  auch in der Zukunft gelingen kann? Das Allensbach Institut hat zu Jahresbeginn mit einer Umfrage herausgefunden, dass 77 % der Westdeutschen die Demokratie für die beste Staatsform halten. In Ostdeutschland sind es jedoch nur 42 %. Das Wahlergebnis der LTW in Thüringen muss auch vor diesem Hintergrund  Sorgen bereiten. Denn eine Verfassung lebt von der Akzeptanz durch die Bevölkerung, ohne die es seine ordnende und leitende Wirkung nicht entfalten kann. Müssen wir solche Umfrageergebnisse und Wahlergebnisse als Misstrauensbekundung gegenüber unserem Grundgesetz und gegenüber der  darin verbürgten Ordnung betrachten? Das Scheitern einer Demokratie haben wir in Deutschland ja schon einmal erlebt.

Damit komme ich zu unserem zweiten Jubiläum. Wir erinnern uns in diesem Jahr an die Gründung der Weimarer Republik vor 100 Jahren,   der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Ein Neubeginn voller Emotion und Hoffnung, aber in schweren Zeiten – auch diese Hintergründe haben Sie erläutert, Herr Stangl. Nach weniger als 14 Jahren, 16 Regierungen, 12 Kanzlern und gut 20 Kabinetten war der erste Versuch, Deutschland eine demokratische Grundordnung zu geben, gescheitert. Die Amtszeiten von Regierungen betrugen etwa acht Monate. Die längste Regierung amtierte weniger als zwei Jahre, die kürzeste Amtszeit betrug keine zwei Monate.

Dazu hat ein Wahlsystem beigetragen, das mit einem hohen demokratischen Anspruch konzipiert wurde, das dem Verhältniswahlrecht den Vorrang gegenüber dem Mehrheitsprinzip gab und auf eine Sperrklausel verzichtete. Die Folge waren instabile Mehrheiten und Regierungen, die nicht belastbar waren. Die Verfassung hielt dem Versuch der Demokratisierung jedenfalls auf Dauer nicht stand – vielleicht gerade wegen ihres hohen demokratischen Anspruchs. Weimar war nämlich keine „Demokratie ohne Demokraten“, wie man es landläufig immer mal wieder hört.

Aber die Demokraten schwanden zwischen 1918 und 1933 immer mehr, bis sie sich bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 schließlich einer Mehrheit von Nationalisten und Kommunisten gegenüber sahen. Ein paar wenige Wahlergebnisse will ich Ihnen hier in Erinnerung rufen: 1928 erzielte die NSDAP bei den Reichstagswahlen weniger als 3 Prozent (2,63 %) der Stimmen, zwei Jahre später waren es  dann schon über 18 Prozent, im November 1932 lag sie bei 33 Prozent und im März 1933 bekam sie 44 Prozent Zustimmung. Das Grundgesetz hat von Weimar gelernt. Wir haben ein anderes Wahlrecht, wir kennen die 5-Prozent-Klausel und das konstruktive Misstrauensvotum. All das schützt, zumindest was den Parlamentarismus in Deutschland betrifft, recht gut vor den gefürchteten „Weimarer Verhältnissen“.

Aber gilt das auch für die Demokratie insgesamt? Für uns ist Demokratie ja nicht einfach nur eine Staatsform, sondern sie ist eine Lebensform, sie prägt die Gesellschaft, die Mitbestimmung in den Unternehmen, das Zusammenleben in Vereinen, Schulen und Familien.

Wir erleben derzeit

  • eine gesellschaftliche und politische Polarisierung,
  • eine zunehmend unversöhnlicher werdende öffentliche Debatte,
  • ein Erlahmen der Kompromissbereitschaft
  • das Erstarken der politischen Extreme.

All das sind Warnzeichen, die uns alle ermuntern und motivieren sollten, wieder stärker auf die Tugenden der Bundesrepublik und auf die Werte des Grundgesetzes zu setzen. Barack Obama sagte in seiner Abschiedsrede in Chicago im Januar 2017: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Nicht nur für die Vereinigten Staaten trifft dieser Satz zu. Auch wir, die wir seit nunmehr 70 Jahren in einer Demokratie leben dürfen, nehmen diese nur allzu oft als selbstverständlich hin. Die Erinnerung an Diktatur und Terror des dritten Reichs und die Erinnerung an die Anfänge der Bundesrepublik – all dies schwindet.  Die Berichte derer, die den Niedergang Deutschlands und seinen mühseligen Aufbau hautnah miterlebt haben, werden immer seltener und leiser.

Das sind die Erzählungen

  • über die versteckte Kuh im Stall
  • über die Furcht vor dem Postboten,
    der oft schicksalhafte Nachrichten von der Front mitbrachte
  • über die Sehnsucht nach
    einem Stückchen Wurst und
  • die Neugier auf den amerikanischen Kaugummi oder
  • die Freude über das Care-Paket.

Das kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft hält nur drei Generationen und stirbt mit seinen Trägern. So beschreiben es die Kulturwissenschaftler Jan und Almeida Assmann. Deutschland ist auch und gerade auf dem Boden seiner kollektiven Erinnerungen zu einem der liberalsten und friedfertigsten Länder der Welt geworden. Aber die Generationen wechseln und Geschichte gerät in Vergessenheit. Deswegen sind Geschichtsunterricht und politische Bildung so wichtig, deswegen ist es so wichtig, dass wir in den Familien über die Generationen hinweg im Gespräch bleiben. Das ist ja etwas, was gerade Sie, meine Damen und Herren, in Ihren Verbindungen ganz bewusst pflegen. Auch in unseren Schulen und mit unseren vielen verschiedenen außerschulischen Bildungsorten leisten wir einen großen Beitrag zur Information und Aufklärung unserer Jugend. Es muss uns gelingen, meine Damen und Herren, die junge Generation für die Demokratie zu begeistern, sie muss diesen Schatz genauso hüten, wie frühere Generationen  dies getan haben.

Aber seien wir ehrlich: Es sind ja nicht unbedingt die Jungen, die sich abwenden. Vielleicht sind es gerade die Älteren, die müde geworden sind. Denn, meine Damen und Herren, Demokratie ist anstrengend und die Bürgerinnen und Bürger müssen sich immer wieder neu zu ihr bekennen und sich um sie bemühen.

Nach 1989 – und jetzt komme ich zu unserem dritten Jubiläum – schien es, als hätte die Demokratie endgültig den Sieg davon getragen im Kampf der Systeme, als wäre das „Ende der Geschichte“ zum Greifen nahe. So sah es z.B. der amerikanische Präsident George Busch in einer Rede vor dem Kongress 1990. Unter diesem Titel schrieb der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ein viel beachtetes Buch.

Die These lautete:  Der Westen und mit ihm sein Zivilisationsmodell, basierend auf

  • der individuellen Freiheit
  • der Marktwirtschaft und
  • der Demokratie hat gesiegt.

Eine neue Weltordnung kann entstehen, ja ein neues Zeitalter – so die Erwartung. Ein Zeitalter, in dem die Nationen der Welt blühen, in dem Ost und West, Nord und Süd in Harmonie leben können. Ein maßgeblicher Auslöser für dieses Denken waren die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Der ehemalige Freiburger Bischof Robert Zollitsch – ein Ehrenmitglied Ihres Cartellverbands – sagte noch 2013:  „Unsere Zukunft liegt in Europa und nicht in der Rückkehr in die Nationalstaaten. Ich hoffe, dass wir diese Frage auf Dauer überwunden haben.“

Das vermeintliche „Ende der Geschichte“ brachte aber auch das Aufweichen bisher klarer Orientierungsrahmen mit sich. Früher gab es klare Frontstellungen: West gegen Ost, Links gegen Rechts, Kapitalismus gegen Kommunismus. Heute leben wir stattdessen im Zeitalter des globalen Cyberspace und in diesem  offenen, transnationaler Raum kann man durchaus die Orientierung verlieren. Gefährden Globalisierung und Digitalisierung unsere Demokratie? Zu der Geburtsstunde des Grundgesetzes konnte noch niemand an Internet, Social Media oder Globalisierung heutiger Ausprägung und Intensität auch nur denken. Das Internet feiert in diesem Jahr ja auch einen runden Geburtstag: den 50. Auf die Folgen einzugehen, wäre ein eigener Vortrag, aber sicherlich sind wir uns alle darin einig, dass die Digitalisierung massive Auswirkungen nicht nur auf unser alltägliches und wirtschaftliches Leben hat, sondern auch und gerade die Demokratie maßgeblich und bedenklich beeinflusst.

Aber auch die bisherige Geschichte der Bundesrepublik ist geprägt von unvorhersehbaren, teils heftigen Umbrüchen und das Grundgesetz und unser Staatswesen war all diesen Anstürmen gewachsen.

Man denke nur

  • an die 68er Revolten,
  • an die RAF und den deutschen Herbst,
  • oder die Kontroversen um den Nato-Doppelbeschluss.

Auf der Basis unseres Grundgesetzes und seiner Grundwert ist unsere Demokratie nämlich anpassungsfähig und handlungsfähig. Wir können auch auf Digitalisierung und Globalisierung die richtigen Antworten finden, meine Damen und Herren, und zwar als Teil eines lebendigen Europas und einer vitalen Europäischen Union.

Meine Damen und Herren, der Historiker Andreas Rödder hat es uns erst kürzlich wieder in Erinnerung gerufen, was es mit der Demokratie auf sich hat: „Wörtlich bedeutet Demokratie nichts anderes als „Herrschaft des Volkes“, (…)“Es ist nämlich so, dass der Staat alleine Demokratie nicht verwirklichen kann. Es gehört das Volk dazu. So banal sich das vielleicht anhören mag: Wir müssen es uns offensichtlich wieder in Erinnerung rufen! Demokratie muss sich von unten nach oben entwickeln, sie kann nicht von oben verordnet werden.

Sie kennen sicherlich das berühmte Böckenförde-Diktum, das der Bundesverfassungsrichter bereits 1967 formulierte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“  Paul Kirchhof , ebenfalls 12 Jahre lang Bundesverfassungsrichter und Mitglied in Ihrem Cartellverband,  interpretiert dies wie folgt:

Der Staat sei „auch darauf angewiesen, dass freie Bürger ethisch und moralisch handeln. Gesellschaftliche Gruppen sollen das Ihre dazu beitragen, dass Staat und Gesellschaft gelingen. Nehmen wir das Thema Gewaltverzicht. Das Faustrecht haben wir hinter uns gelassen und die Bürger entwaffnet. Jetzt garantiert der Staat die innere Sicherheit durch staatliche Organe wie Polizei und Bundeswehr. Aber innere Sicherheit kann nur gelingen, wenn jedermann, dem jemand abends auf dunkler Straße entgegenkommt, ihm mit Rücksichtnahme begegnet und ihn in seiner Würde achtet. Freiheit ist ein Wagnis. Es kann gelingen und misslingen. Böckenförde wollte dem Bürger bewusst machen: Achtung, auf Dich kommt es an, Du musst etwas beitragen, damit dieses großartige Konzept der Freiheit gelingt.“

„Du musst etwas beitragen“ – das schreibt uns auch Paul Kirchhof ins Stammbuch!  Tun wir das noch in ausreichendem Maß ? In einer Zeit, in der der Individualismus immer stärker in den Vordergrund tritt, vielleicht wegen materiellem Überfluss, wodurch der Zwang zur Kooperation scheinbar schwindet?  „Was bringt’s mir“ ist heute allzu oft die erste Frage. Das schwächt die Handlungsfähigkeit einer Gesellschaft als Ganzes und schwächt die Möglichkeit, breite Mehrheiten für politische Positionen zu finden.

Sie als Mitglieder des Cartellverbandes, als Mitglieder von mehr als 125 katholischen Studentenverbindungen, Sie wissen um den Wert von Gemeinschaft. Denn nur, wenn alle an einem Strang ziehen und jeder für den anderen einsteht, nur dann gelingt Gemeinschaft. „Die Gleichgültigkeit vieler Bürger gegenüber der liberalen Demokratie bei gleichzeitiger Erwartungsüberfrachtung des politischen Systems“ ist eines von mehreren Krisensymptomen, die Marina und Herfried Münkler in ihrem kürzlich erschienen Buch aufzeigen. Ich kann Ihnen diese Lektüre mit dem Titel „Abschied von Abstieg“ nur empfehlen.  Eins der Gegenmittel der Eheleute Münkler ist die Stärkung der repräsentativen Demokratie.

Keinesfalls sehen sie die Lösung in einer plebiszitären Demokratie. Die wird ja neuerdings von Vertretern des äußersten rechten Randes des politischen Spektrums lautstark propagiert. Aber seit meiner Studienzeit kenne ich die Forderung nach direkter Demokratie auch von Grünen und Linken. Die Schweiz mit ihrer über Jahrhunderte gewachsenen  Kultur des Volksentscheids kann meiner Ansicht nach für uns aber kein Vorbild sein. Wir haben unsere eigene Geschichte. Aber den Appell der Münklers an den mündigen Staatsbürger, der das Gegenteil ist vom „ruhigen Bürger“ und vom „Wutbürger“,  den möchte ich gerne unterstützen. Die Beiden erinnern an den Citoyen, den wir schon von Jean-Jaques Rousseau her kennen. Er unterschied zwischen homme – bourgeois – citoyen. Vielleicht ist es an der Zeit, den citoyen wieder mehr zu betonen und zu stärken.

Und ich unterstreiche ihre Warnung: „Das Desinteresse der Bürger an politischen Aufgaben ist für die Demokratie ebenso gefährlich wie die Intrigen und Machenschaften derer, die sie zerstören wollen“. (S. 293) Wir alle sollten uns also in Gesellschaft und Politik engagieren und das darf ich auch und gerade im Land des Ehrenamtes Baden-Württemberg sagen. Wir können noch mehr Menschen brauchen, die sich einbringen.! Die jüngste Shell-Jugendstudie finde ich dahingehend sehr erfreulich: Junge Leute sind politisch interessiert (41% der 12-25 jährigen), sie halten das eigene politische Engagement für wichtig (34%) und: Sie sind Familienmenschen.

Auch um die Zufriedenheit mit der Demokratie ist es bei der Jugend nicht schlecht bestellt: gut drei Viertel der befragten Jugendlichen sind zufrieden mit der Demokratie in Deutschland. Dabei ist der Bildungsstand ein entscheidendes Merkmal: Je höher das Bildungsniveau, desto mehr sinkt die Zustimmung zu rechtspopulistischen Aussagen. Jugendliche engagieren sich heute allerdings weniger in Parteien als vielmehr in Interessengruppen. Sie melden sich bei Demonstrationen für Fridays for Future oder in der Bewegung gegen die Uploadfilter zu Wort und bringen wirklich viel Energie ein, um ihre Meinung kundzutun.

Ich halte es für eine große Bereicherung, der jungen Generation zuzuhören, ihr politisches Interesse aufzufangen und sie zu ermuntern, sich auch konstant und nicht nur punktuell und zeitlich befristet zu engagieren. Schon auf kommunaler Ebene müssen wir um Jugendliche werben, damit sie sich langfristig für das Gemeinwohl engagieren: In den Vereinen und Kirchen, in den politischen Gremien, zum Bespiel im Gemeinderat. Im Gemeinderat, meine Damen und Herren, da geht es dann ganz praktisch darum, ob z.B. ein neuer Verkehrskreisel mit pflegeleichtem Rasen oder mit bienenfreundlichen Blumen bepflanzt wird. Hier können alle Menschen erleben, dass demokratische Beteiligung keine abstrakte Übung ist sondern selbstwirksame Gestaltung der eigenen Lebenswirklichkeit.

Und auf diese Weise kann eine der Grundvoraussetzungen für Demokratie gelernt werden: Die Kompromissbereitschaft.  Bei den kurz- und mittelfristigen Bürgerbewegungen oder Bürgerinitiativen  geht es ja meistens um ein einziges Ziel. Den Willen zum Konsens sehe ich dort nur  sehr gering ausgeprägt. Die Konsensfindung ist aber ein konstituierendes  Merkmal unserer Demokratie und aus der praktischen Politik in Stadt und Land nicht wegzudenken.

Deswegen halte ich eine Rückbesinnung auf die Werte, die uns alle verbinden, auf die Werte des Grundgesetzes für dringend notwendig und zwar über alle Generationen hinweg. Kürzlich, meine Damen und Herren, habe ich das Futurium in Berlin besucht.Das ist ein Haus der Zukünfte und es dreht sich alles um die Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben? Dort habe ich so viele tolle Ansätze aus Wissenschaft und Technik, Sozialpolitik und Wirtschaft kennengelernt,  die alle darauf abzielen, wie wir unser Zusammenleben noch besser und effektiver gestalten können. Einen Besuch dieser Ausstellung kann ich Ihnen wirklich empfehlen, wenn Sie Mut und Zuversicht schöpfen wollen.

Es gibt schon viele Lösungsansätze für unser Zusammenleben, und zwar sowohl was unser Zusammenleben untereinander als auch im Hinblick auf die Schöpfung,  auf Natur und Umwelt angeht. Aber all diese Lösungen möchte ich im Rahmen unserer repräsentativen, liberalen Demokratie auf den Weg bringen. Deswegen: Wir Demokraten müssen wachsam sein. Wir müssen den Schatz der Demokratie und des Grundgesetzes hüten. Denn: Die Demokratie hat Gegenspieler, das ist gar keine Frage, aber das hatte sie immer.

Jetzt sind es die Populisten, diejenigen, die Extremismus und Rassismus, ja sogar Antisemitismus wieder Raum geben. Aber es sind auch die Müden, diejenigen, denen unser Zusammenleben zu komplex und kompliziert erscheint und diejenigen, die meinen, sie hätten ihr Schäfchen im Trockenen und müssten sich nur um sich selbst kümmern. Deshalb ist es wichtig, jeden Einzelnen wieder mit ins Boot zu holen, ihn an seine Aufgabe zu erinnern, damit wir gemeinsam auf Kurs bleiben. Sie, meine Damen und Herren, können selber dazu beitragen. Sie in Ihren Verbindungen verkörpern ja geradezu das demokratische Ideal. Ihre Prinzipien fußen auf Religion und Wissenschaft,  Freundschaft und Gemeinschaft und Sie sind davon überzeugt, dass ein demokratischer Staat nur durch die Verantwortung eines jeden Bürgers leben und überlegen kann. Ihre Prinzipien religio – scientia – amicitia – partria  sind aktueller denn je! Freiheit und Demokratie meine Damen und Herren, das ist und das bleibt ein Wagnis. Deswegen: Lassen Sie uns mutig voranschreiten. 100 – 70 – 30  –  vielleicht ist das doch ein Code, ein Code, der uns daran erinnert, wie zerbrechlich die Demokratie ist und dass wir uns alle jeden Tag in den Dienst dieser Demokratie stellen müssen. Ich danke Ihnen, dass  Sie genau dies tun und danke für Ihre Aufmerksamkeit.