„Augen-Blick-mal“

Sehr geehrte Damen und Herren,

Im Internet habe ich eine Videoreihe gefunden, die heißt „Frag ein Klischee“. Letztes Jahr erschien da ein Beitrag mit dem Titel: „Frag einen Blinden“. [https://youtu.be/aeJOVHdoDD8]

Interviewt wurde der sehbehinderte Musiker

Jonas Hauer;

die Fragen stammten von dem jungen Zielpublikum.

Eine Frage lautete z.B. „Sieht Du schwarz?“

Und er antwortete:

„Schwarz siehst du immer nur dann, wenn du noch weißt, was Weiß ist. Das ist wie mit Hell und Dunkel: Es ist immer nur dann „dunkel“, wenn du dich an „hell“ erinnern kannst.“

 Meine Damen und Herren: „Es ist immer nur dann dunkel, wenn du dich an hell erinnern kannst“–

 Für mich heißt das, ich verstehe schwarz nur, wenn ich weiß kenne.

Ich benötige also den Gegensatz.

Ich benötige Weiß, um Schwarz zu verstehen.

Wenn ich mich mit einem anderen Menschen über Weiß und Schwarz unterhalten möchte, brauchen wir beide diesen Verständigungszusammenhang.

 

Menschen mit Augenlicht kennen also den Verständigungszusammenhang von Hell und Dunkel, sie können Schwarz definieren, und auf einem Bild z.B. als  bedrohlich wahrnehmen.

Das Besondere an den Kunstwerken von Gudrun Achterberg ist, dass sie denen, die das nicht sehen können, ein Angebot zum Lesen, zum Verstehen machen. Damit ermöglicht sie es uns, dass wir uns über etwas unterhalten, obwohl uns der eigentliche gemeinsame Verständigungszusammenhang fehlt.

Die größte Hilfsbereitschaft nützt nichts, wenn man nicht versteht, was der Andere braucht.

Dieses frustrierende Erlebnis erzählte mir meine Tochter, die in Berlin am Hauptbahnhof den ankommenden Ukrainern helfen wollte.

Die Organisation, bei der sie sich zum Einsatz meldete, war bestens strukturiert. Aber: ohne Ukrainisch oder zumindest Russisch ließ sich in dieser Situation am Bahnhof beim besten Willen nicht viel ausrichten.

Andere Verständigungsprobleme kennen wir aus der Coronapandemie:

Da haben sich Menschen nicht mehr verstanden, obwohl sie dieselbe Sprache hatten.

Da saßen sich Familien unter dem gemeinsamen Dach völlig zerstritten und sprachlos  gegenüber.

Auch ich wusste nichts mehr zu sagen, wenn mir Bürger, die ich früher als ganz normal kennen gelernt hatte, plötzlich Verschwörungsmythen nahe bringen wollten.

Aber auch diejenigen, die die Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensregeln ernst nahmen, hatten Verständigungsprobleme:

Großeltern saßen plötzlich isoliert zuhause.

In Pflegeheimen herrschte Besuchsverbot.

Da blieb fast nur das Telefon als Kontakt zur Außenwelt. Gesetzt den Fall, man hatte jemanden zum Anrufen.

Und all die Videokonferenzen: Sie ersetzen keinen Handschlag,  keine kurze Berührung, keinen Geruch.

Das sind aber genau die Kommunikationsmittel, auf die Menschen, die nicht oder nicht gut sehen können, angewiesen sind.

Sie brauchten Töne und Geräusche, Körperkontakt und Gerüche zu ihrer Orientierung und Verständigung.

Plötzlich mussten sie mit der Stille des Lockdowns zurechtkommen. Sie konnten Stimmen, die durch die Masken gedämpft wurden, nicht mehr so eindeutig wie sonst erkennen und interpretieren. Sie sollten Abstand halten, konnten diesen Abstand aber visuell gar nicht abmessen.

Meine Damen und Herren,

Sie merken: es gibt viele Möglichkeiten des Unverständnisses, viele Gelegenheiten, dass Menschen sich nicht verstehen.

Da müssen wir dann aufpassen, dass sich nicht dauerhaft tiefe Gräben auftun, dass sich nicht jeder in sein Schneckenhaus oder in seine „Blase“ zurückzieht und dann gar nichts mehr geht. Denn „sich miteinander verständigen“, das muss man auch trainieren,

das kann man üben.

Wenn es solche Gräben zwischen den Menschen gibt, braucht es Brückenbauer,

um diese zu überwinden.

Für die Menschen aus der Ukraine wird es nach und nach viele Übersetzungen geben. Von der Tagesschau bis zur Sendung mit der Maus – es gibt schon etliche Angebote. Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg lässt jetzt gerade ihrer Ratgeber  auf Ukrainisch übersetzen.

Während der Pandemie: Da gab es jugendliche Brückenbauer, die sich als nachbarschaftliche Einkaufshelfer anboten.

Manchmal kann auch moderne Technologie helfen: Vielleicht eignet sich die App

„Be my Eyes“, die der Däne Hans Jürgen Wiberg erfunden hat. Vielleicht kennen einige von Ihnen sie. Ich habe davon nur gelesen.

Mit dieser  App können sehbehinderte Menschen Normalsehende um Hilfe in Alltagssituationen fragen, per Handyanruf.
[https://www.bemyeyes.com/about]
Musik kann Brücken bauen, das erleben wir ja heute wieder ganz besonders schön.
Der bundesweite Tag der Sehbehinderten am 6. Juni kann ein Tag des Brückenbauens sein. Liebe Frau Achterberg, da haben wir uns ja kennen gelernt, im Juni 2019, in Grafenau, wo Sie wohnen und mit Ihrem Mann zusammen Ihr Atelier haben.
Auch Sie, liebe Frau Achterberg, sind eine Brückenbauerin. Sie sind Pädagogin, haben ein Kunst-Studium absolviert und sowohl in der Erwachsenenbildung als auch in der Schule gearbeitet.
Anhand der Kunst   Prinzipien für das Leben zu vermitteln, darin sehen Sie bis heute Ihre Aufgabe.

Eins dieser Prinzipien zielt auf die Verwandlung der Dinge, auf das Hinterfragen von dem, was als festgefügt gilt.

Dafür muss man sich auch mal in die Schuhe des Anderen stellen.

Oder: Die Dinge mit anderen Augen – mit den Augen der Anderen – betrachten.

Dann kann man seine Mitmenschen besser verstehen. Und aus dem Verstehen wächst die Verständigung.

Sie haben z.B.  verstanden:

Wer nicht sehen kann, kann fühlen.

In dem Interview „Frag einen Blinden“ mit

Jonas Hauer, das ich eingangs erwähnte,

erzählt der blinde Musiker, dass er gerne ans Meer fährt. Denn: „Das Meer bedient alle Sinne. Ich kann es riechen. Ich kann es schmecken. […] Ich kann es hören.“ [17:44 min.]

Fühlen statt sehen: Die Textilkunst von Gudrun Achterberg bietet genau das.

Wenn Sehen nicht möglich ist, so gibt es doch ein Verstehen und eine Verständigung durch einen anderen Sinnesreiz: Durch das Fühlen, z.B. durch das Ertasten der Brailleschrift oder den Verweis auf die Textur von feinem Sand und rauem Strandtuch.

Und gleichzeitig macht das den Menschen, die zwar sehen, aber die  Braille-Schrift nicht entziffern können, deutlich, wie es ist, wenn man etwas nicht verstehen,

nicht entschlüsseln kann.

Die Textilkunst hat eine lange Tradition. Denken Sie an die Tapisserien und Wandteppiche aus früheren Jahrhunderten. Oder an das 1919 gegründete Bauhaus, die Geburtsstätte der Klassischen Moderne.

Es hat nicht nur die Architektur geprägt.

Auch die Textilkunst wurde ausgehend von der dortigen Weberei legendär beeinflusst.

Gudrun Achterberg arbeitet seit den 1980er Jahren zunehmend mit Textilien. Und vor einigen Jahren hat  sie das Brücken  bildende Potenzial der Textilkunst erkannt und für die Arbeit mit Blinden eingesetzt.

Seither sind viele verschiedene Inszenierungen und Performances entstanden.

Ich freue mich sehr, dass wir heute nun diese Ausstellung hier im Stuttgarter Rathaus eröffnen können – mit Pandemie bedingter Verzögerung.

Uns erwartet heute Abend ein tolles Programm für alle Sinne und ich danke schon jetzt allen, die dazu beitragen.

Ein herzliches  Dankeschön geht auch an

unsere Gastgeber hier in Stuttgart,

liebe Frau Bürgermeisterin  Fezer.

Meine Damen und Herren: „Es ist immer nur dann „dunkel“, wenn du dich an „hell“ erinnern kannst.“
Wenn sich unsere Augen nicht erinnern können, so können sich vielleicht unsere Hände erinnern und sie können unterscheiden zwischen rauer Faser und seidigen Stoffen.

Auf diese Weise können sich Sehende und Nicht-Sehende  verständigen –  über ein Bild, über eine Wahrnehmung, über ein Thema.

Das bringt Menschen zusammen.

Das ist die Verständigung, die wir so dringend brauchen: über die nationalen Grenzen hinweg, um in Frieden mit anderen Ländern leben zu können, aber eben auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaft, die ja so extrem vielfältig geworden ist und so viele unterschiedliche Milieus beinhaltet.

Vielen herzlichen Dank, liebe Frau Achterberg, dass Sie uns heute diese Zusammenkunft ermöglichen und dass Sie uns Möglichkeiten aufzeigen, wie wir einander verstehen können.