Artifex-Kunstausstellung

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

vor einiger Zeit habe ich das Rotkreuzmuseum in Genf besucht. Stellen Sie sich einen großen Glasbau vor mit modernen, dunklen, beinahe beklemmenden Räumen. Dort haben renommierte internationale Architekten klassische Museumsinhalte in einer spektakulären Inszenierung großartig aufbereitet.

Sie berichten von der Arbeit des Roten Kreuzes in der ganzen Welt. Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir ein ganz kleines, ein ganz unscheinbares Exponat: ein klitzekleines Kunstwerk, gefertigt aus einem winzigen Stück Seife. Vielleicht so groß wie ein Fingernagel. Ein Kriegsgefangener hat es angefertigt, eine Skulptur aus einem Seifenstück – ein Mini-Kunstwerk.

Führen Sie sich das einmal vor Augen:

Inmitten eines Krieges, in Gefangenschaft, in einer Situation der Entbehrung und der Todesangst gestaltet ein Mensch ein Kunstwerk. Das war kein Zeitvertreib. Nein: Für diesen Gefangenen war dies eine Möglichkeit, zu flüchten, sich in einen Akt der Kreativität zu flüchten. Sich selbst zu behaupten, das eigene Ich zu spüren, sich der Außenwelt als schöpferisches Individuum zu beweisen. Sich Menschlichkeit in einer Umgebung der Unmenschlichkeit zu bewahren.

Man könnte meinen, diese existenzielle Leistung von Kunst haben wir in unserer friedlichen Umgebung, in unserem Wohlstandsland nahezu vergessen. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ das ist in unserer modernen Zeit eine häufige, witzig gemeinte aber  leere Phrase geworden.

In unserer Welt der Reizüberflutung und der Bequemlichkeit erscheint vielen Menschen die Beschäftigung mit Kunst zu langwierig, zu langweilig, irgendwie überflüssig. Überflüssig deswegen, weil sie fragen: „Was bringt denn Kunst? Was leistet die denn? Sie macht mich nicht satt, sie macht mich nicht erfolgreich, sie bietet mir keine kurzweilige Unterhaltung.“

Leer ist die Phrase jedoch deswegen, weil sie eine zentrale Funktion von Kunst außer Acht lässt. Eine Funktion, die unserem namenlosen Gefangenen mit seiner Seifenskulptur klar war: Kunst macht den Menschen zum Menschen. Sie weckt Gefühle, sie regt zum Nachdenken an, sie ermöglicht Selbst-Bewusstsein im eigentlichen Sinn. Häufig spiegelt sie unsere Gesellschaft, aber sie hinterfragt sie auch und entwickelt sie weiter. Kultur ist das Fundament von Zivilisation.

 

Dazu eine weitere Geschichte:

Als der Kabarettist Dieter Nuhr kurz nach dem 11. September 2001 wieder auftrat, stellte er die Frage, warum man denn in dieser Zeit noch Witze machen könne. Und er antwortete auf seine eigene Frage: „das ist es doch, was uns von den Taliban unterscheidet.“ Die Kleinkunst also quasi als Antwort auf den religiösen Extremismus.

Um den Gedanken fortzuspinnen: In Afghanistan sprengten die Taliban 2001 die gigantischen Buddha-Statuen von Bamiyan. In Syrien zerstörten die IS-Kämpfer 2015 die uralten Tempel von Palmyra. Auch in allerjünster Zeit wird also die Attacke auf die menschliche Zivilisation mit der Vernichtung von Kunst und jahrhundertealten Weltkulturerbe-Stätten verbunden. Der Deutschlandfunk hat darüber im vergangen August eine Sendung gebracht. Darin wird umgekehrt weiter berichtet: Als der IS in den letzten Jahren im Irak besiegt wurde, waren es Künstlerinnen und Künstler, die sich ihr kulturelles Territorium zurückeroberten. Theater wurden wieder in Betrieb genommen, ein Bildhauer schuf in Bagdad aus den Grundsteinen zerstörter Moscheen und Kirchen einen riesigen Bogen. Was für eine tiefgehende Symbolik!Aus den Überresten eines Terrorstaats entsteht etwas Neues. Im Werken, Komponieren, Musizieren, Tanzen und Lachen setzt man einen Kontrapunkt zur vergangenen Schreckensherrschaft.

Meine Damen und Herren: Kultur schafft Zivilisation. Kunst macht uns Menschen zu Menschen.

Um diese Botschaft zu vermitteln, müssen wir den Blick gar nicht in die Ferne schweifen lassen, in Situationen von Krieg und Gefangenschaft. Wir können gedanklich hier bei uns im Land bleiben. Auch Ihre Kunstaustellung hier, auch die Arbeit von Artifex kann unter Beweis stellen: Kunst stiftet Gemeinschaft, Kunst prägt die Gesellschaft. Und zwar auf zweierlei Weise. Erstens: Sie tragen Kunst in die Weite, ins ganze Land, auch in kleine Orte abseits der großen Metropolen.

Ich habe selber als Frau eines Forstamtsleiters die Erfahrung gemacht, was es heißt, auf dem Land zu leben und durch kleine Kinder im Bewegungsradius eingeschränkt zu sein. Da war ich froh über jedes kulturelle Angebot, für das ich nicht in eines der weiter entfernten Kulturzentren fahren musste.

Ich glaube daher: Wenn Kunst für die ganze Gesellschaft da sein will, muss sie auch zu dieser Gesellschaft hin. Und die lebt nun mal nicht nur in großen Ballungszentren. Wir dürfen und sollen uns natürlich kulturelle Spitzenangebote – Staatstheater und Staatsmuseen – leisten.  Aber belassen dürfen wir es dabei nicht. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in Baden-Württemberg Kunst und Kultur überall anbieten, auch in kleinen Orten, auf Heimatfesten – ich durfte ja kürzlich hier in Weissach eine Veranstaltung zum landesweiten Museumstag miterleben. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die kulturelle Bildung stärken – an Schulen aber auch an anderen Orten. Umso dankbarer bin ich Ihnen, dass Sie von Artifex nun seit 15 Jahren daran mitwirken, diese Breitenwirkung zu erreichen. Sie tragen ihre Kunst mit gezielten Projekten in alle Generationen – an Kindergärten und Schulen genauso wie an Alten- und Pflegeheime.

Das ist nämlich ihre zweite Leistung: Sie verbinden Kunst und Soziales. Die meisten von Ihnen verdienen mit Ihrer Kunst nicht Ihren Lebensunterhalt. Sie gehen einem anderen Broterwerb nach.  Auch Ihr Verein ist nicht gewinnorientiert. Stattdessen spenden Sie die Erlöse dieser Ausstellung an soziale Projekte. Dafür kann ich Ihnen nur meinen tiefen Dank ausdrücken.

Damit schlagen Sie den großen, den existenziellen Bogen, den ich zu Beginn meiner Rede aufgezeigt habe.

Meine Damen und Herren: Sollte Sie jemand fragen „Ist das Kunst oder kann das weg?“, sollte Ihnen jemand vorwerfen, Kunst sei doch überflüssig: Dann antworten Sie mit der kleinen Seifenskulptur, von der ich zu Beginn meiner Rede sprach. Dann erzählen  Sie von dem Bildhauer aus Bagdad, der aus den Grundmauern der vom IS zerstörten Gebäude wieder Kunstwerke entwickelt. Oder antworten Sie ganz einfach mit Ihrer Arbeit hier in Weissach!