75 Jahre nach Flucht und Vertreibung
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich, dass Sie alle gekommen sind – trotz widriger Umstände!
Ein herzliches Willkommen gilt auch den zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen, Verbänden und des Konsularischen Korps. Entschuldigen möchte ich den Innenminister und Landesbeauftragten für Vertriebene und Spätaussiedler – er wäre sehr gerne heute hier dabei gewesen, ist aber leider verhindert. Ich darf Sie alle herzlich von ihm grüßen.
Ich freue mich sehr, dass ich Sie alle heute Abend hier im Landtag begrüßen darf zu unserer gemeinsamen Veranstaltung „75 Jahre nach Flucht und Vertreibung – Wie aus Vertreibung Versöhnung wurde“. Ich finde es gut und richtig, dass wir uns heute genau hier treffen, meine Damen und Herren. Hier im Landtag von Baden-Württemberg, wo wir uns sehr bewusst der Erinnerungskultur widmen. Hier in einem demokratischen Parlament, das die Aufgabe hat, alle Gruppen der Bevölkerung zu repräsentieren. Hier im Haus des Landtags, wo die politischen Weichen für die Zukunft gestellt werden. Und dafür müssen wir uns, meine Damen und Herren, unserer Vergangenheit bewusst bleiben und bereit sein, daraus zu lernen.
Schlagen wir nur einmal heute die Zeitung auf:
- Wir werden in die Augen von syrischen Kindern in Lesbos schauen, die in ihren Flüchtlingslagern ausharren.
- Wir werden von Populisten lesen, die das „freie und geeinte Europa“, das die Heimatvertriebenen schon vor 70 Jahren gefordert haben, infrage stellen.
- Wir werden von Menschen lesen,
in Baden oder in Württemberg,
in Berlin oder in Weimar,
die sich in unserer heutigen, globalisierten Welt entwurzelt und heimatlos fühlen.
Ich glaube: Für alle diese drängenden politischen Fragen können wir von Ihnen, meine Damen und Herren, etwas lernen.
Erstens können einige unter Ihnen uns noch vermitteln, was Krieg bedeutet, wie sich das anfühlt. Und wir wissen ja, dass die Erfahrungen der älteren Generation auch die nächste und die übernächste Generation prägen. Ich persönlich gehöre zu der Generation, die den Krieg und die Nachkriegsjahre nicht mehr am eigenen Leib verspüren musste. Als ich 1961 geboren wurde, war das Wirtschaftswunder schon voll im Gange. Ich kenne nicht den Klang des Fliegeralarms, den stechenden Hunger oder das Gefühl der Todesangst. Ich selber habe noch meinen Großvater im Ohr, der von Krieg und Gefangenschaft erzählte, aber schon meine Kinder kennen eigentlich nur Zahlen. Zahlen, die ein Mensch eigentlich nicht erfassen kann:
60 bis 70 Millionen Tote, Millionen Verwundete, und am Ende der Tragödie: mehr als 12 Millionen Vertriebene. Deutsche aus allen Teilen des östlichen Reiches sowie aus den Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas.
Was für uns Nachkriegskinder schwer greifbar ist, das sind die Gesichter und die Geschichten, die hinter diesen anonymen Millionen stecken. Gerade deswegen versucht unsere Erinnerungskultur ja, mit den Mitteln der Kunst, der Literatur, der Spielfilme und anderer Medien die Geschichte emotional fassbar und zugänglich zu machen. Gerade daher ist es so wichtig, dass Sie, meine Damen und Herren, Ihre Geschichten weitertragen, von Generation zu Generation. Um das Credo des „Nie wieder“ weiterzuvererben.
Das zweite, was wir von den Heimatvertriebenen lernen können, ist eine Lektion über Integration und über Versöhnung. Zur Wahrheit gehört ja auch: Die Integration der Vertriebenen war eine Integration gegen Widerstände. Und davon gab es viele:
- Widerstände gegen die Einquartierungen – und die Geschichten darüber kenne ich noch von meinem eigenen Vater, Jahrgang1933.
- Widerstände dagegen, die knappen Lebensmittel mit fremden Ankömmlingen teilen zu müssen
- Widerstände dagegen, fremde Dialekte und Gebräuche in nächster Nachbarschaft auszuhalten.
Und dennoch. Diese Integration wurde zu einer Erfolgsgeschichte! Auch und vor allem deshalb, weil Sie es so wollten, meine Damen und Herren. Und ich bin fest davon überzeugt, dass Ihr Weg Sie zu ganz besonders tatkräfig zupackenden Menschen gemacht hat! Dadurch sind Sie ein Teil des Wirtschaftswunders Deutschlands und Baden-Württembergs geworden! Jeder vierte Einwohner dieses Bundeslandes war bei dessen Gründung ein Vertriebener! Sich einzubringen und sich zu engagieren, sich anzustrengen und sich selbst etwas abzuverlangen – auch das können wir von den Heimatvertriebenen und deren Nachkommen lernen! Und deswegen finde ich, dass wir hier in diesem Haus die Aufgabe haben, Sie dabei zu unterstützen, Ihre Geschichte zu pflegen und Ihre Mentalität und Ihre Kultur in unsere Gesellschaft einzubringen.
Heute wird ja oft davon gesprochen, dass Deutschland bunt sein soll, divers, dass Baden-Württemberg vielfältig sein soll. Ihren Beitrag zu dieser Vielfalt, meine Damen und Herren, wollen wir dabei nicht unter den Tisch fallen lassen, sondern wir wollen ihn nutzen und pflegen! Ihre Literatur, Ihre Musik, Ihre Tänze und Trachten, das gilt es zu bewahren und fortzuentwickeln. In diesem Landtag hier wurde gerade wieder bei den jüngsten Haushaltsberatungen ausführlich darüber gesprochen, wie wichtig es ist, die Erinnerungsstätten unserer Geschichte zu fördern, damit wir alle aus dem Vergangenen lernen können.
Raimund Haser hat sich dabei ganz besonders für Ihre Anliegen eingesetzt. Ich persönlich bin auch der festen Überzeugung, dass es richtig ist, den Vertriebenenbereich finanziell angemessen zu unterstützen und in unserem Haushalt zu verankern. Denn wie schon gesagt, Sie leisten mit Ihrem Einsatz auch einen Betrag dazu, dass wir die aktuellen Herausforderungen meistern können und dass wir uns für die Zukunft rüsten.
Dafür brauchen wir Sie und Ihr Engagement, meine sehr geehrten Damen und Herren. Bitte machen Sie weiter! Für heute wünsche ich uns interessante Anregungen durch den Vortrag von Herrn Dr. Beer und die anschließende Gesprächsrunde. Das Wort darf ich nun an Raimund Haser übergeben, der als Präsidiumsmitglied und stellvertretender Landesvorsitzender für den BdV spricht.