25 Jahre „Schindlers Liste“ – Hollywood und Realität
Sehr geehrte Frau Professorin Rosenberg,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
in einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 1952 erklärte fast die Hälfte der Befragten, die Westmächte seien die „wirklichen Kriegsverbrecher“ des zweiten Weltkrieg gewesen. Im Jahr 2018 antworteten 37 % der Baden-Württemberger auf die Frage: „Können Sie gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind?“ mit Ja. Also jeder Dritte stimmte teilweise oder ganz zu. Der gestrigen furchtbare Terroranschlag in Halle hat uns wieder einmal klar gemacht, dass das keine nackten Zahlen sind: Sie haben grausame Bedeutung!
Eigentlich sind wir stolz auf unsere Erinnerungspolitik in Deutschland. Und ich meine, wir dürfen tatsächlich dankbar sein für unser gesellschaftliches Zusammenleben und für das historische Bewusstsein, das mittlerweile zu Deutschland gehört. Aber wir wissen auch: Unsere Erinnerungskultur ist nicht selbstverständlich. Sie ist gegen Widerstände entstanden und muss immer wieder neu gegen diese Widerstände erstritten werden.
Und dieses Wissen um die eigene Geschichte gäbe es nicht, wenn Menschen wie Sie, liebe Frau Rosenberg, oder Institutionen wie die Landeszentrale für politische Bildung diese Erinnerungskultur nicht erarbeiten würden. Erinnerungskultur ist immer und immer wieder neu harte Arbeit.
Arbeit gegen drei ebenso verständliche wie problematische Herausforderungen: nämlich gegen das Verdrängen das Verfärben und gegen das Vergessen.
Fangen wir an mit dem Verdrängen:
In den ersten Nachkriegsjahren musste sich eine ganze Generation der Erkenntnis stellen, Teil einer mörderischen Ideologie gewesen zu sein. Teil eines Systems, das einen furchtbaren Krieg begonnen und millionenfachen Völkermord begangen hatte. Gleichzeitig hatte die ganze Gesellschaft zunächst einmal mit den Entbehrungen der Nachkriegszeit zu kämpfen. Menschen wie mein Großvater kehrten erst viele Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurück. Jahre, in denen meine Großmutter alleine ein Geschäft führen, drei Kinder erziehen, Einquartierungen bewältigen musste. Eine ganze Zeit lang herrschten Ungewissheit und Mangelwirtschaft. Was für ein einfacher und menschlich nachvollziehbarer Reflex war es da, die Frage der Verantwortung auszublenden. Aus den Nazis die „Aliens“ zu machen, die 1933 auf die Erde kamen und 1945 wieder verschwanden. Sich ausschließlich auf Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, anstatt auf Erinnerung, Gedenken und Verantwortung zu konzentrieren.
So verständlich dies jedoch sein mag, so problematisch ist es auch, wie uns die eingangs zitierten Umfragen zeigen: Wenn man plötzlich anfängt, Täter und Opfer zu vertauschen.
Wenn die Alliierten als „die wahren Kriegsverbrecher“ bezeichnet werden. Wenn Nazi-Gedankengut unter der Oberfläche weiterbrodelt. Umso wichtiger war es da, dass einige das Schweigen brachen und begannen, unbequeme Fragen zu stellen – und sei es erst Jahrzehnte nach Kriegsende.
Um einmal exemplarisch einige Stationen zu nennen:
- 1959 stieß Fritz Bauer gegen viele Widerstände die Prozesse gegen die Auschwitz-Verantwortlichen an.
- 1979 führte die Fernsehserie ‚Holocaust’ dazu, dass sich erstmals die Fernsehbevölkerung mit der Shoah auseinandersetzte.
- 1985 prägte Bundespräsident Weizäcker den Begriff vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“.
- Ab 1990 rückten Sie, Frau Rosenberg, die Geschichte von Emilie Schindler in das Licht der Öffentlichkeit.
- Und erst vor zwei Wochen haben wir im Landtag mit einer Ausstellung versucht, einer weiteren vergessenen Geschichte wieder mehr Aufmerksamkeit zu geben, nämlich der Geschichte des badischen, jüdischen Abgeordneten Ludwig Marum, der in der Weimarer Republik den Übergang zur Demokratie auf Landesebene entscheidend mitprägte und der zu einem der ersten politischen Mordopfer des NS-Regimes wurde.
- Und unsere Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann hat erst kürzlich mit ihren Kollegen aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland vereinbart, gemeinsam die Pflege von 2.000 jüdischen Gräbern in Südfrankreich, in Gurs, zu übernehmen.
Mit dieser Gedenkarbeit war und ist es aber nicht getan. Hinzu kam früh die zweite Herausforderung:
Das Verfärben: Auch dahinter steckt eine verständliche Ursache: Wir denken gerne in schwarz und weiß,
wir suchen nach Helden- und Schurkengeschichten.
Deswegen steht heute jede Dokumentation, jeder Film über den Nationalsozialismus vor der Aufgabe, diese Geschichten zwar nahbar zu erzählen, aber eben ohne sie zu verfärben und damit zu verfälschen.
Wo am Ende die Grenzen liegen, ist immer wieder neu auszuhandeln. Ich habe kürzlich den Roman „Stella“ gelesen.
Von Takis Würger, einem jungen Autor, geboren 1985. In den Besprechungen dazu kam die Diskussion auf: Darf man das? Darf man Weltkrieg und Holocaust in einer fiktiven Geschichte über Liebe, Erotik und Spionage verpacken? Darf man dafür auch Klischees bedienen?
Hier möchte ich noch einmal auf unseren heutigen Gast und unseren heutigen Gastgeber schauen: Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg leistete 1976 bundesweite Pionierarbeit mit dem sogenannten Beutelsbacher Konsens. Darin wurden in einer Zeit, in der die politische Debatte ähnlich wie heute hohe Wellen schlug und sehr stark polarisiert war, die Leitlinien für die politische Bildung definiert, die noch heute gültig und wichtig sind:
Keine Einseitigkeit, keine Überwältigung! Was in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, muss gerade jungen Menschen gegenüber auch kontrovers dargestellt werden.
Nur so gelingt die Erziehung zu mündigen Bürgern.
Und Sie, Frau Professorin Rosenberg, haben sich mit der Art, wie der Film „Schindlers Liste“ unsere Geschichte verarbeitet, auseinandergesetzt. Hierzu werden wir ja gleich noch Spannendes hören.
Zum Verdrängen und Verfärben ist allerdings inzwischen noch ein drittes Problem hinzugetreten:
Das Vergessen: Dieses letzte Problem nimmt seinen Ausgang eigentlich in etwas Wunderbaren: In Deutschland lebt zum ersten Mal eine ganze Generation, die nie Krieg erfahren musste. Aber aus dieser Distanz erwächst die neue Gefahr: In der Kriegs- und Nachkriegsgeneration wollten sich einige nicht mit den Erinnerungen an die NS-Zeit befassen.
Ihre Kinder und Enkelkinder können es häufig nicht. Ganz einfach deswegen, weil es zu lange her ist. Für sie liegt der 2. Weltkrieg gefühlt unendlich weit zurück – nicht viel anders als der dreißigjährige Krieg.
Hinzu kommt: Wir verlieren allmählich die letzten Zeitzeugen als Träger der Erinnerung. Oskar Schindler starb beispielsweise schon 1974. Seine Frau Emilie 2001.
Umso wichtiger ist es, dass wir Orte des Erinnerns schaffen. Genau dies tut die Landeszentrale für politische Bildung: Sie konzipiert, unterhält und pflegt nicht weniger als 70 Gedenkstätten in ganz Baden-Württemberg. Mit diesen überall im Land angesiedelten Gedenkstätten können wir vielen Menschen direkt vor der eigenen Haustür das Erinnern ermöglichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Erinnerungspolitik ist und bleibt harte Arbeit. Arbeit gegen das Verdrängen, gegen das Verfärben und gegen das Vergessen.
Es jagt uns Angst ein, wenn früher große Teile der Bevölkerung in den Alliierten die „wahren Kriegsverbrecher“ sahen. Wenn heute ebenso große Teile Verständnis für die Ablehnung von Juden äußern. Und dass diese Angst berechtigt ist, zeigt das Attentat von Halle, das uns alle so furchtbar erschüttert.
Ja, wir haben Grund zur Besorgnis, Grund zur Angst. Aber meine Damen und Herren, Angst kann auch lähmen, Panik ist ein schlechter Ratgeber, Hysterie hat in der Politik nichts zu suchen. Lassen Sie aösp uns wachsam bleiben, aufmerksam und aktiv. Lassen Sie uns an die guten Beispiele denke, die ich in dieser Rede gestreift haben: an die wiederentdeckten Geschichten, an die Bildungsarbeit an Schulen, an die exzellenten Gedenkstätten und an Veranstaltungen wie diese hier und heute: Dann habe ich auch die Hoffnung, dass wir etwas ausrichten können, nicht nur gegen diese erschreckenden Umfragezahlen, sondern auch dagegen, dass Menschen in diesem Land andere Menschen töten, weil sie sie nicht als gleichwertig betrachten, weil sie ihnen die Menschenwürde absprechen und damit selber unmenschlich zu handeln bereit werden.
In diesem Sinne freue ich mich ganz herzlich auf Ihren Vortrag, liebe Frau Rosenberg!